Drama | 2023 | Deutschland
98 Minuten
Wenn man sich eine Lehrerin für die eigenen Kinder wünschen könnte, man würde sie auswählen: Carla Nowak, gespielt von Leonie Benesch, ist jung, motiviert, geduldig und verständnisvoll im Umgang mit den Kindern. Auch ihre Methoden sind beeindruckend. Diese pädagogisch versierte Mathe-Lehrerin muss mit ansehen, wie die Direktorin eine Art Razzia in ihrem Klassenzimmer durchführt. An der Schule gibt es schon länger eine Diebstahl-Serie, die nun aufgeklärt werden soll.
Es steht der idealistischen Lehrerin ins Gesicht geschrieben, wie sich alles in ihr gegen so ein Vorgehen sträubt. Tatsächlich wird ein türkischer Junge zu Unrecht verdächtigt - was ihr hochnotpeinlich ist. Und so tut Carla etwas, das schlau scheint, sich aber als das Gegenteil erweisen wird: Sie lässt Geld im Lehrerzimmer liegen und die Kamera ihres Laptops laufen. Die Falle schnappt zu, und eine Frau aus dem Kollegium scheint als Diebin enttarnt. Weil sie, diskret darauf angesprochen, alles abstreitet, schaltet Carla die Direktorin ein. Aber was ist nun empörender: das dreiste Abstreiten der mutmaßlichen Diebin - oder die Spitzel-Aktion der jungen Lehrerin?
Je mehr sich die Hauptfigur um Deeskalation bemüht, desto mehr entgleitet ihr die Situation. Und das Publikum landet direkt mit ihr in der moralischen Zwickmühle - so zwingend ist İlker Çatak Drama konstruiert.
Regisseur Çatak geht es in "Das Lehrerzimmer" nicht darum, die Schule als System zu hinterfragen, sondern er nutzt sie als Spiegelbild einer Gesellschaft im Kleinen: die hierarchischen Strukturen, die multikulturelle Mischung in den Klassen und die Vorurteile, die damit immer noch einhergehen. Es geht auch um die Rivalitäten im Kollegium und nicht zuletzt um die hohen moralischen Ansprüche, die das Lehrpersonal unter Druck setzen. Schon die kleinste Verfehlung kann an den Social Media-Pranger führen.
"Der Film handelt von unserer Debattenkultur, von der Suche nach Wahrheit, der Suche nach Gerechtigkeit, der Verdrehung von Wahrheit", sagt İlker Çatak. "Es geht um Fake News, um Cancel Culture. Es geht darum, wie man als Lehrkraft alles richtig machen will und doch einiges falsch macht."
In der Mathematik gibt es 100-prozentig richtige Lösungen - im Umgang mit Konflikten leider nicht, wie Carla Nowak schmerzlich erfahren muss. "Das Lehrerzimmer" ist ein bitterböses Lehrstück in Sachen Selbstgerechtigkeit. Dass ausgerechnet die Person mit den besten Absichten die schlimmste Kettenreaktion in Gang setzt, hat zugleich etwas Komisches und Tragisches. Einer eindeutigen Lesart entzieht sich dieses Drama - umso interessanter das Kinoerlebnis!
Regie: İlker Çatak
Drehbuch: Johannes Duncker, İlker Çatak
Produktion: Ingo Fliess
Musik: Marvin Miller
Kamera: Judith Kaufmann
Schnitt: Gesa Jäger
Besetzung
Leonie Benesch: Carla Nowak
Michael Klammer: Thomas Liebenwerda
Rafael Stachowiak: Milosz Dudek
Anne-Kathrin Gummich: Dr. Bettina Böhm
Eva Löbau: Friederike Kuhn
Kathrin Wehlisch: Lore Semnik
Sarah Bauerett: Vanessa König
Leonard Stettnisch: Oskar
Oscar Zickur: Lukas
Antonia Luise Krämer: Jenny
Elsa Krieger: Hatice
Vincent Stachowiak: Tom
Tim Porath: Toms Vater
Filmkritik
Cosima Lutz hob im Filmdienst die dramaturgische Offenheit und Spannung von "Das Lehrerzimmer" sowie dessen subtilen Humor hervor („Alles scheint hier möglich, eine Fabel vom Gelingen genauso wie ein Amoklauf“). Regisseur und Drehbuchautor İlker Çatak führe „das Publikum in diesem Gesellschaftslabor auf dasselbe Glatteis wie die Protagonistin“. Auch pries sie die Schauspielleistungen von Leonie Benesch und Eva Löbau, die „streng“ komponierte und „elegant“ fließende Kameraarbeit von Judith Kaufmann sowie die beunruhigende Musik von Marvin Miller. Das Handeln an der Schule erweise sich in Bezug auf die begangenen Diebstähle „als immer schwieriger, je mehr geredet“ werde. Die angewandte „Null-Toleranz-Politik“ setze „eine geradezu klassische Tragödie in Gang, indem gerade in seiner Erfüllung die Übertretung“ liege „und im Vermeidenwollen das zu Vermeidende“ geschehe. Die Figur der Carla Nowak wolle „alles richtig machen“, bekomme aber „alsbald zu spüren, wie schnell das ‚Null-Toleranz‘-Diktat zu Denunziantentum, Verdacht und Ausgrenzung“ führe, „statt einen ‚sicheren Raum‘ zu schaffen“. Die von anderen vorgebrachte Kritik, „dass nicht ganz klar sei, worauf“ Çataks Film eigentlich hinauswolle, ließ Lutz aber nicht unerwähnt.
Auszeichnungen
Im Rahmen der Aufführung auf der Berlinale war der Film für den Panorama Publikumspreis nominiert, während Hauptdarstellerin Leonie Benesch als deutscher „Shooting Star“ ausgezeichnet wurde. Das Werk erhielt den CICAE Art Cinema Award und den Preis Label Europa Cinemas jeweils als bester Sektionsbeitrag des Panoramas. Bei der Verleihung zum Deutschen Filmpreis 2023 folgten fünf Auszeichnungen, darunter als Bester Spielfilm. Dabei setzte sich Das Lehrerzimmer gegen das zuvor vielfach preisgekrönte Kriegsdrama Im Westen nichts Neues durch. Auch erhielt Das Lehrerzimmer zwei Nominierungen für den Europäischen Filmpreis 2023 und wurde für den Oscar 2024 in der Kategorie Bester internationaler Film nominiert.
Quellen: google.com, Wikipedia, ndr.de/kultur